Die neue hauptamtliche Behindertenbeauftragte Simone Fischer.Andrea Dikel
Können Menschen mit einer geistigen Behinderung ein Kind erziehen? Beim Caritasverband für Stuttgart gibt es eine klare Antwort auf diese Frage: Ja. Sie brauchen nur die richtige Unterstützung dafür. Diese Unterstützung zu leisten, ist aber nicht allein Aufgabe unseres Sozialsystems, sondern ein Auftrag an unsere gesamte Gesellschaft. Sie muss akzeptieren und verstehen, dass alle Menschen ganz selbstverständlich das gleiche Recht auf Partnerschaft und Familiengründung haben und dass Menschen mit einer Behinderung da keine Ausnahme sind. Das sagte Uwe Hardt, Vorstand des Caritasverbandes für Stuttgart, am Freitag bei der Eröffnung einer ganz besonderen Einrichtung, wie es sie bisher in Stuttgart noch nicht gegeben hat: Im Haus Peter Eckle in Stuttgart-Feuerbach leben künftig Menschen mit einer Behinderung mit ihren Kindern. Möglich macht diese Form des ambulant betreuten Wohnens das Modell der begleiteten Elternschaft. Sie ermöglicht es durch maßgeschneiderte Hilfen, dass Kinder bei ihren Eltern mit Behinderung aufwachsen können.
Dass Menschen mit einer Behinderung nicht mehr zeitlebens in einer stationären Einrichtung oder bei ihren Eltern wohnen müssen, dass behinderte Kinder in ganz normalen Klassen an normalen Schulen lernen, später eine Ausbildung machen und arbeiten - die meisten Menschen heutzutage würden das verstehen und akzeptieren, sagte Uwe Hardt bei der Eröffnung des Hauses. Doch ein nicht behindertes Kind, das seinen 9. Geburtstag in einer Familie mit einem behinderten Elternteil feiern will. Ein 16-jähriges nicht behindertes Mädchen, das zum ersten Mal seinen Freund zu seinen behinderten Eltern nach Hause bringt. Bei wem verursachen diese Vorstellungen keine Fragen im Kopf? Für Uwe Hardt zeigt das vor allem, wie viel sich gesellschaftlich ändern muss, bis solche Szenarien anerkannt und akzeptiert sind. Umso mehr freute sich der Caritasdirektor, dass der Verband in Stuttgart sich der Herausforderung stellt, eine große Verantwortung für die Eltern genauso wie für die Kinder zu meistern und dafür mit dem Haus Peter Eckle die Voraussetzungen geschaffen hat.
Außenansicht des Hauses Peter EckleIngrid Turba
Wie es gelingt, die Herausforderung zu schaffen, beschreibt das Konzept des Hauses, das ein enges Zusammenspiel von Kinder- und Jugendhilfe sowie Behindertenhilfe vorsieht. Neben erweiterten Assistenzleistungen für die Eltern bietet das Haus ein Hilfesystem, das das kindeswohl in den Mittelpunkt rückt. Den rechtlichen Rahmen bietet das Bundesteilhabegesetz. Es umschreibt die "Leistungen für Assistenz", die explizit Beratung, Begleitung und Betreuung durch Fachkräfte der Behindertenhilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe für Mütter und Väter mit Behinderung bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder vorsehen.
HausansichtenAndrea Dikel
Neben dem neuen Angebot freute sich Uwe Hardt auch darüber, dass der Caritasverband für Stuttgart vor dem Hintergrund der angespannten Stuttgarter Wohnsituation neuen Wohnraum für Menschen schaffen konnte, die es auf dem Wohnungsmarkt besonders schwer haben. Gelungen ist dies durch eine Zusammenarbeit mit der Caritas Stiftung Stuttgart. Denn aus Mitteln der Heinz und Ursula Grötzinger-Stiftung, die bereits diverse Projekte der Behindertenhilfe des Caritasverbandes finanziert hat, wurde der Neubau zum großen Teil finanziert. Zur Eröffnung des Hauses kam auch Ursula Grötzinger, die der Behindertenhilfe seit vielen Jahren eng verbunden ist.
Und einer weiteren Stifterin gebührte am Eröffnungstag der Dank: Sabine Eckle. In der Lindichstraße 6, wo nun das Haus Peter Eckle eröffnet wurde, stand einst über 100 Jahre lang ihr Elternhaus. Ein Haus, in dem es - wie Sabine Eckle am Beispiel dreier ehemaliger Bewohner/innen vorstellte - ihre Mutter stets ermöglicht hatte, dass sich dort unterschiedliche Lebenswelten in einer Hausgemeinschaft zusammenfinden und niemand Sorge haben musste, seine Wohnung oder Werkstatt wegen zu hoher Mietkosten aufgeben zu müssen. Und so prägten Vielfalt, Andersartigkeit, Individualität und soziale Verantwortung Sabine Eckles Vorstellung von einem sozialen Leben. Vier Begriffe, die Sabine Eckle später auch wieder begegneten, als sie in der Behindertenhilfe der Stuttgarter Caritas tätig wurde. Über 20 Jahre lang baute sie dort das Malatelier "Die anderen Künstler" auf, begleitete zahlreiche Menschen mit Handicap in ihrer künstlerischen Entwicklung und stellte dabei fest: "Ich habe sie kennengelernt als besondere Menschen, lebensfroh und heiter, direkt in ihrer Meinung, einem starken Willen, Neues zu lernen, individuell mit eigenen Vorstellungen vom Leben und mit dem unbändigen Wunsch nach Eigenständigkeit, nach einem selbstbestimmten Leben."
Dass der Grundstücksverkauf einmal mit einer sozialen Komponente verbunden werden solle, war Sabine Eckle klar, als ihr Bruder Peter, nach dem das Haus letztlich benannt wurde, 2013 verstarb. Als Beate Lachenmaier, Bereichsleiterin der Behindertenhilfe im Caritasverband, ihr dann von dem geplanten Wohnprojekt der begleiteten Elternschaft erzählte, stand für sie fest: Hier, an dem Ort, wo einst ihr Elternhaus stand, soll dieses Projekt entstehen. Für Lacher sorgte sie, als sie auf den Preis zu sprechen kam, den sie für ihr Grundstück verlangte: "Not sehen und handeln" - eine Anspielung auf das Caritas-Motto.
Sozialbürgermeister Werner Wölfle übergibt Blumen an Neubewohnerin Diana Hassel, die die Feier mit ihrem Gesang umrahmte.Andrea Dikel
Dieses soziale Engagement von Sabine Eckle würdigte Vorstand Uwe Hardt mit einem herzlichen Dankeschön. Auch Sozialbürgermeister Werner Wölfle, der sich über das Haus Peter Eckle als neues Element mit Beispielcharakter für Folgeprojekte freute, griff das Thema auf. Mit dem Grundstück in Feuerbach, sagte er, hätte Sabine Eckle "fette Kohle machen" können. Sie aber sei ein dankenswertes Beispiel dafür, dass es auch anders gehe. Ein Beispiel, das gerne Schule machen dürfe bei denjenigen, die hier in der Stadt viel Geld haben. Da sei noch Luft nach oben.
Apropos Luft: Dass die während eines Hausbaus auch mal dick sein kann, darauf hatte Uwe Hardt bereits angespielt und den Nachbarn des Hauses Peter Eckle für ihr Verständnis bezüglich Baulärm und -verschmutzungen gedankt. Später sprach die Feuerbacher Bezirksvorsteherin Andrea Klöber von einer "hin und wieder schwierigen Bauphase". Doch alledem zum Trotz: Sie freue sich nun über ein wichtiges Wohnprojekt für Feuerbach und darüber hinaus und hieß die neuen Bewohnerinnen und Bewohner herzlich willkommen. Sie sollen sich fortan wohl- und zuhause fühlen.
Wie wichtig das ist, erklärte Diana Hassel, die die Feier gemeinsam mit Jennifer Epple und in musikalischer Begleitung von Günther Werle gesanglich gestaltete und erst vor wenigen Tagen das Haus Peter Eckle bezog. Sie bewohnt nun eines der sieben Einzelappartements, die sich zusätzlich zu den sieben Zweizimmerwohnungen für Eltern mit ihren Kindern in dem Haus befinden. "Umziehen ist komisch", befand sie und erklärte, was es ausmacht, sich nicht nur wohl, sondern auch zuhause zu fühlen: Freunde, Freiheit, die Möglichkeit zum Rückzug sind ihr wichtig. Und "endlich eine eigene Wohnung nur für mich".
Andrea Dikel
Dass die Caritas Menschen in einer besonderen Situation nun ein Zuhause bieten kann, freute auch Simone Fischer, neue hauptamtliche Behindertenbeauftragte der Stadt ab Januar, und ihren Vorgänger Walter Tattermusch. Endlich, sagte Simone Fischer, habe Stuttgart eine Lösung für Menschen, die bislang aus der Stadt wegziehen mussten, weil es für sie kein entsprechendes Angebot gab. Zehn Jahre lang hat Simone Fischer beim städtischen Sozialamt im Sachgebiet Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in Einrichtungen gearbeitet. Schade fand sie es, wenn man den Menschen mangels passgenauer Angebote nicht vor Ort weiterhelfen konnte. Umso mehr freue sie sich, dass das nun vorbei sei. Wie ganz und gar nicht selbstverständlich ein solches Angebot einmal war, rief Walter Tattermusch, noch bis Jahresende ehrenamtlich als Behindertenbeauftragter im Amt, mit einem Stuttgarter Fall ins Gedächtnis. Damals musste sich ein Elternpaar mit Behinderung bis vor den Europäischen Gerichtshof kämpfen, um sein Kind selbst erziehen zu dürfen. Ein Fall, der damals ein Signal an die Jugendhilfe in ganz Deutschland gewesen sei. Dass ein Wohnprojekt, wie es nun die Caritas in Stuttgart anbietet, realisiert worden sei, sei toll.
Beim Caritasverband für Stuttgart erhofft man sich nun, dass auch das Haus Peter Eckle Signalwirkung haben wird. Die ersten Bewohnerinnen sind bereits eingezogen. Bei der Eröffnungsfeier gab’s noch die offizielle - symbolische - Schlüsselübergabe von Sabine Eckle an Gabriele Philipp, die das Haus Peter Eckle fortan leitet.