Ursula Grötzinger zu Hause – der Wandteppich war vor 40 Jahren ein Geschenk an ihren Mann aus Dankbarkeit für die Vermittlung einer WohnungLichtgut/Leif Piechowski
Stuttgarter Zeitung, 24.10.2019, Viola Volland
Wenn Ursula Grötzinger auf ihrem Lieblingsplatz am Esstisch im Wohnzimmer sitzt, schaut ihr Mann ihr quasi über die Schulter. Ein Porträt von Heinz Grötzinger hängt hinter ihr an der Wand. 57 Jahre lang, bis zu seinem Tod vor drei Jahren, war er an ihrer Seite. "Es ist ein großes Glück, wenn man so viele Jahre zusammenbleiben kann", sagt die 78-Jährige, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, das Lebenswerk ihres Mannes weiterzuführen: mit der Grötzinger-Stiftung sozial schwachen oder benachteiligten Menschen ein Zuhause zu geben. Die Wohnungsnot in Stuttgart treibt die Seniorin um, wie früher ihren Mann. Im sozialen Wohnungsbau habe die Stadt Stuttgart viel zu lange geschlafen, kritisiert sie.
Heinz Grötzinger wuchs in ärmlichen Verhältnissen bei der Mutter auf, der Vater war in Russland verschollen. Er musste sich alles selbst erarbeiten - und brachte es als Architekt dank seines kaufmännischen Talents auf ein beachtliches Vermögen. Er sei geschickt gewesen, an Bauland zu kommen, weil er mit jedem konnte und einen guten Draht zu Bauern hatte, berichtet seine Witwe. Er habe um die 3500 Wohnungen in Stuttgart gebaut, darunter waren viele Sozialwohnungen. Sie selbst wurde auf dem Land groß. Während ihr Mann die Bombeneinschläge während des Krieges in Stuttgart hautnah miterlebte, erinnert sie sich an eine unbelastete Kindheit. Mit 18 verschlug es sie in die große Stadt, sie arbeitete bei einer Stuttgarter Firma, die Fußbodenbeläge verkaufte. Wenig später lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen. Im Café Marquardt, damals ein Tanzcafé, führte ein Kellner sie und ihre Freundin an einen Tisch mit zwei Männern. Einer war Heinz Grötzinger, zwölf Jahre älter als sie. Er habe sie zunächst angeflunkert, er sei Parfümverkäufer, erzählt sie und schmunzelt. Sie spricht mit großer Wertschätzung von ihrem Mann. Er habe sie geprägt, sagt die Seniorin - ohne dass sie klein geworden wäre an seiner Seite. Ursula Grötzinger hat auch als Ehefrau weiter als Kauffrau gearbeitet. Sie kennt sich aber nicht nur bestens mit Zahlen, sondern auch auf Baustellen aus: "Ich war Architektenfrau - sonntags war bei uns Baustellentag", sagt sie. Bodenständig und gläubig war das Ehepaar, das kinderlos blieb. "Es wurde nichts Unnötiges gekauft", sagt sie. Die Möbel in ihrem Zuhause in Feuerbach sind mit ihnen alt geworden. Ihr gefallen sie weiterhin. Statussymbole waren den beiden nicht wichtig. Bis ihr Mann 40 war, sei er mit einem alten Ford herumgefahren. Sein letztes Auto, ein BMW, besaß er 22 Jahre lang. Das Geld wurde also zusammengehalten. Nicht für sich selbst. "Mein Mann wollte der Gesellschaft etwas zurückgeben", sagt Ursula Grötzinger. Er wurde Stifter und unterstützte über viele Jahre vor allem die Arbeit der Caritas. Das Haus Ursula in der Schönbühlstraße im Stuttgarter Osten, in dem Menschen mit Behinderung begleitet wohnen, hat die Grötzinger-Stiftung zum Beispiel ermöglicht; in einem Haus in Feuerbach können Eltern mit Behinderung mit ihren Kindern leben, "begleitete Elternschaft" heißt das Vorzeigeprojekt. Das Fundament des Stiftungskapitals bilden 170 Wohnungen (die Mieten sollen weit unter Mietspiegel liegen). Heinz Grötzinger hat sein Vermögen der Stiftung vermacht, sie ihren Pflichterbteil überschrieben. So kann weiter Gutes entstehen.
Die "Krönung" von Grötzingers Lebenswerk soll eine Seniorenwohnanlage in Mönchfeld werden, die die Stiftung in Kooperation mit der Caritas-Gemeinschaftsstiftung verwirklicht. Sie müssten wesentlich mehr als ursprünglich gedacht investieren, wie Grötzinger erzählt. Dabei wollten ihr Mann und sie eigentlich noch viel mehr günstigen Wohnraum für Senioren schaffen. Aber wegen der Auflagen lasse sich nur "ein kleiner Teil von dem, was wir wirklich wollten", umsetzen. Herausgekommen ist immer noch das größte Projekt, das die Grötzinger-Stiftung bisher gestemmt hat: 64 Wohnungen für Senioren werden entstehen.
Als realistisch, willensstark, gesegnet mit einem gesunden Menschenverstand, bodenständig und bescheiden - so beschreibt der Vorstand der Caritas-Stiftung und zweiter Vorstand der Grötzinger-Stiftung, Heinz Wolf, Ursula Grötzinger. Er hat sie zu dem Termin mit der Journalistin überredet, weil sie eigentlich lieber im Hintergrund bleibt. Einmal die Woche treffen sich die beiden bei Keksen und Kaffee, besprechen Zahlen und Projekte. Für sie stand außer Frage, dass sie die Rolle ihres Mannes übernehmen würde. Und wenn sie etwas tut, dann richtig. Mit Akribie ist sie in die Materie eingetaucht, ihr beruflicher Hintergrund hat geholfen. Die Arbeit für die Stiftung, diese Aufgabe zu haben, tut ihr aber auch gut. Sie musste vor drei Jahren einen doppelten Verlust verkraften: Ihr Bruder, zu dem sie ein enges Verhältnis hatte, starb fünf Tage vor ihrem Mann. In seinem letzten Lebensjahr hat Ursula Grötzinger ihren Mann gepflegt. Nun pflegt sie sein Vermächtnis.
Stiftung des öffentlichen Rechts
Anfänge Seit Ende der 1980-er Jahre hat Heinz Grötzinger die Caritas-Arbeit unterstützt, lange über eine Treuhandstiftung. Im Februar 2007 wurde die Grötzinger-Stiftung vom Regierungspräsidium Stuttgart als Stiftung bürgerlichen Rechts anerkannt. Stiftungssitz ist das Wohnhaus des Ehepaares.
Projekt
Neben dem Pflegeheim St. Ulrich in Mönchfeld ist eine große Seniorenwohnanlage geplant. Sie wird von der Caritas-Gemeinschaftsstiftung gebaut, die Grötzinger-Stiftung übernimmt den Großteil der Kosten von 17 bis 19 Millionen Euro. Im Februar 2020 wird die Kirche St. Johannes Maria Vianney, die später neu gebaut wird, abgerissen. Baubeginn der Anlage soll September 2020 sein, die Bauzeit beträgt zwei Jahre.